"Sexuelle Gewalt wird durch ein System von Überzeugungen und Bildern gestützt"

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Foto: Ilona Habben

Die Schriftstellerin und Journalistin Hilal Sezgin (geb. 1970) beschäftigt sich vornehmlich mit den Themen Tierethik und Tierrechte, Feminismus, Philosophie und Islam, Islamfeindlichkeit und Multikulti. Sie schreibt u.a. für DIE ZEIT und die Süddeutsche Zeitung sowie als Kolumnistin für die Meinungsseite der taz. Sie setzt sich für die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ein und verteidigt das Recht muslimischer Frauen, in Beruf und Öffentlichkeit Kopftuch zu tragen. Zuletzt erschienen bei ZEIT Online ihre Beiträge Ich bin es leid sowie Deutsche Respektlosigkeiten, die sich mit der aktuellen Debatte um sexuelle Gewalt und Alltagssexismus in Deutschland auseinandersetzen.Wir wollten von ihr wissen, wie sie die derzeitige Diskussion einschätzt.

 

1. Frau Sezgin, Sie haben sich am 6. Januar in der ZEIT unter der Überschrift "Ich bin es leid" sehr deutlich dagegen verwahrt, das Thema sexualisierte Gewalt vor den Karren anderer Agenden zu spannen – vor allem bezogen auf Asylrecht und Schengenabkommen. Was war der Auslöser dafür und wie erleben Sie die aktuelle Debatte?

Nachdem die Ereignisse auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz bekannt geworden sind, wurde sofort das Augenmerk darauf gerichtet, dass es sich dabei vermutlich um Flüchtlinge handelt, womöglich um nordafrikanische oder vielleicht auch syrische. Es wurde danach gefragt, wie lange die Täter schon in Deutschland leben und so weiter. Die Geschehnisse wurden also sofort in einen Kontext eingeordnet: „Sind Flüchtlinge eine Bedrohung für uns?“ Darüber wurde sehr heftig diskutiert und es wurde auch instrumentalisiert. Man kann das vergleichen mit der Diskussion über ein Thema, das kurz darauf öffentlich wurde, nämlich der Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen. Hierbei handelte es sich um enorme Opferzahlen. Ein anderes Beispiel ist die Meldung, dass zehntausende Kinder in Europa verloren gegangen sind, allein 5000 davon in Deutschland, die zum Teil möglicherweise sexuell versklavt werden. Bei all diesen Ereignissen handelt es sich im Grunde um dieselbe Problematik, nämlich sexuelle Gewalt. Wenn man jetzt vergleicht, wie groß die Diskussion war über die Taten in Köln und die anderen Fälle, wo die Täter sozusagen „normale“ Deutsche waren - da ist das in der öffentlichen Wahrnehmung komplett untergegangen. Natürlich dürfen wir nicht das Eine gegen das Andere ausspielen, aber Köln wurde so aufgebauscht und über die anderen Fälle wurde überhaupt nicht diskutiert. Dabei muss doch die übergeordnete Frage sein: Woher kommt sexuelle Gewalt und wie können wir sie bekämpfen?

 

2. Haben Sie den Eindruck, dass in der Debatte rund um sexualisierte Gewalt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen und Fragen der Sicherheit instrumentalisiert werden? Wenn ja, wie könnte ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen?

Ja vollkommen, diesen Eindruck habe ich. Die Angelegenheit ist allerdings ein bisschen schwierig. Niemand ist dafür, natürlich auch ich nicht, dass sexuelle Gewalt verschwiegen wird, wenn sie von einem Flüchtling ausgeübt wird. Es gäbe diese Frage und dieses Problem überhaupt nicht, wenn wir eine allgemeine Debatte über sexuelle Gewalt und eine breite Berichterstattung hätten. Dann bräuchten wir - wie bei allen möglichen anderen Delikten – gar nicht zu erwähnen, wer das genau verübt hat. Denn sexuelle Gewalt wird in allen Schichten und Milieus ausgeübt. Es gibt keine eindeutigen Klassifizierungen, welche Bevölkerungsgruppe dabei vorrangig die Täter stellt. Das hat weder etwas mit dem sozialen Status, der Bildung oder der Herkunft zu tun – es kommt schlichtweg überall vor. Wenn wir also eine breite Debatte hätten, gäbe es kein Problem. Da wir aber normalerweise darüber gar nicht sprechen, es gar nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommt, wird das Thema instrumentalisierbar. Wir müssen die Debatte verbreitern, damit die Einzelfälle dann auch wieder als solche thematisiert werden können – vor einem gesamtgesellschaftlichen Muster.

 

3. In Ihrem Beitrag „Deutsche Respektlosigkeiten“ prangern Sie den Alltagssexismus in Deutschland an. Weshalb ist es Ihrer Meinung nach wichtig, darüber gerade jetzt zu sprechen? Und wo sehen Sie Möglichkeiten, dagegen vorzugehen?

Ich finde nicht, dass gerade jetzt darüber gesprochen werden muss, sondern immer. Wir Feministinnen versuchen ja seit Jahren, das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung sichtbar zu machen, doch es fällt immer wieder hinten runter. Die feministischen Themen, über die noch am ehesten gesprochen wird, sind beispielsweise die Zahl der Managerinnen in Deutschland oder das Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen. Das sind natürlich auch wichtige Themen. Aber sexuelle Gewalt, von der ein großer Teil aller Frauen betroffen ist – jede Zweite wird in ihrem Leben mit Belästigung konfrontiert, jede Dritte erfährt sexuelle Nötigung oder Missbrauch – kommt so gut wie nicht vor. Und das ist ein politisches Problem. Das sind nicht einzelne böse Menschen, sondern das ist einem gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis geschuldet. Meiner Auffassung nach wird sexuelle Gewalt durch ein ganzes System von Überzeugungen und Bildern, die wir zum Thema Frauen und Geschlechterverhältnisse haben, gestützt. Dazu zählt unter anderem sexistische Werbung. Dort werden Frauen immer wieder als Dekomaterial verwendet, ihre nackten Körper werden gezielt eingesetzt – es gibt wirklich eine zum Teil absurde Bildsprache. Ganz eindeutig werden hier weibliche Körper benutzt, weil sie bei Männern Lust erregen sollen oder weil sie dekorativ sein sollen. Auch mit solchen Bildern wird sexuelle Gewalt quasi vorbereitet. Das ist kein isoliertes Phänomen. Unsere Witze, unsere Sprache, unsere Bilder bereiten auch die handfeste sexuelle Gewalt vor. Das gehört zusammen.

 

4. Um von Flüchtlingen oder Migranten ausgehende sexuelle Gewalt zu erklären, werden schnell die Geschlechterordnung in den Herkunftsländern oder die kulturell-religiöse Sozialisierung der Täter herangezogen. Was davon ist belegbar und was dient vor allem als Konstrukt, um Stimmung gegen eine bestimmte Gruppe zu machen?

Es wird gerne so getan, als würden „die“ Araber oder „die“ Muslime in einer gänzlich anderen Geschlechterordnung aufwachsen als zum Beispiel wir „Biodeutschen“ hier in Europa. Das ist aber nicht wahr, sondern wir sind verwandte Kulturen. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat das die „Mittelmeerkulturen“ genannt. Wir haben ein klares binäres Geschlechterverhältnis: Männer und Frauen sind getrennt, es werden ihnen sehr unterschiedliche und komplementäre Attribute zugesprochen. Die Frau gilt vor allem als die Schöne, die Dekorative, die Lust erregende. Der Mann hingegen ist der Aktive, im sexuellen wie auch im gesellschaftlichen Bereich. Das ist all diesen Kulturen gemein. Sexuelle Gewalt gibt es in allen Milieus. Gerüchte allerdings, dass es vor allem die „Fremden“, die Flüchtlinge seien, die (einheimische) Frauen belästigen und vergewaltigen, werden immer wieder geschürt und auch schlichtweg erfunden. Um das zu zeigen, sammelt zum Beispiel die Hoaxmap1 Einträge von erwiesenen Falschmeldungen zu sexueller Gewalt durch Flüchtlinge, die jeglicher realen Grundlage entbehrten.

 

5. Wenn wir über Gewalt an Frauen reden, meinen viele zumeist nur Gewalt an deutschen Frauen. Doch was ist mit den Frauen, die hierher geflohen sind – sind nicht gerade sie besonders häufig Gefahren und Übergriffen ausgesetzt? Wie können wir sie besser schützen?

Hierbei handelt es sich in der Tat um eine sehr schlimme Situation. Es gibt einen Film namens „My Escape“, der aus zusammengeschnittenen Handyaufnahmen von Geflüchteten besteht. Darin kommt auch eine Frau aus Eritrea vor, die etwas berichtet, von dem wir immer wieder hören – nämlich, dass jeden Abend die Schlepper kamen und die Frauen belästigten oder missbrauchten. Sehr oft haben Frauen und allein reisende Kinder sexuelle Gewalt und Ausbeutung erlebt. Das ist eine der scheußlichsten Seiten von uns Menschen: Dort, wo es Schwache gibt, findet sich immer jemand, der ihre Lage ausnutzt – auch sexuell. Hier in Deutschland müssen wir vor allem für den Schutz innerhalb der Unterkünfte sorgen, damit es nicht zu sexueller Gewalt durch andere Geflüchtete, aber auch durch Wachpersonal kommt. Es gibt da noch wahnsinnig viel Handlungsbedarf. Und wir müssen uns darauf einstellen, dass wir den Betroffenen dauerhaft helfen. Das ist nichts, was man einfach so abschütteln kann, selbst wenn man dann hier ein gutes Leben gefunden hat.

 

6. Wenn Sie sich für die aktuelle Debatte etwas wünschen könnten, was wäre das?

Das ist gar nicht so sehr frauenspezifisch. Ich würde mir wünschen, dass alle einfach einsehen, dass die Idee, Europa könne sich vom Rest der Welt abschotten, einfach nicht mehr funktioniert. Angela Merkel hat das einmal ganz gut gesagt: „Unser ganzes Leben lang haben wir das Elend der Welt nur auf den Fernsehbildschirmen gesehen. Jetzt ist es hier.“ Und so ist es auch. 2015 hat wirklich eine Veränderung für uns bedeutet. Wir haben immer so getan, als könnten wir Hunger und Krieg aussperren – sogar, wenn wir selbst die Waffen verkaufen. Das geht schlichtweg nicht. Die Menschen wollen hierher kommen. Wir können weder so hohe Grenzen bauen noch so viel Maschendraht aufziehen, dass wir sie fernhalten können – und das nicht nur aus moralischen, sondern auch aus realistischen Gründen. Ich denke, die Debatte würde deutlich verbessert werden, wenn wir diesen Teil endlich komplett wegließen. Wir müssen akzeptieren, dass die Welt in Bewegung ist und ein Teil der Welt zu uns kommt. Das muss die Grundlage sein.

 

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1Den Link zur Hoaxmap gibt es hier.